Mogelpackung

3. Eine Mogelpackung

Allgemeine Betrachtungen

Wer uns weismachen will, er habe in der Schulzeit nie gemogelt, der mogelt schon wieder. Widerspricht da etwa jemand? Wir unterschieden uns an unserer Schule in dieser Hinsicht nicht von Schülern anderer Schulen.

Bei manchen Schüler war es die bittere Notwendigkeit, der Kampf um's Überleben in der Schule, mancher betrieb das sportlich. Heute würde man das wohl "survival-training" nennen.

Die Fronten waren klar: hier die Schüler, da die Lehrer. Was die einen an Wagemut, Kreativität hineinsteckten, mussten die anderen herausfinden und abwehren.

Natürlich war Mogeln besonders bei Klassenarbeiten mit Strafen belegt. Die reichten vom mündlichen Verweis über harten Tadel, Einzug etwaiger Hilfsmittel, über Eintragung ins Kassenbuch, "blauen Brief" an die Eltern bis zum "consilium abeundi", dem "Rat" abzugehen, wie es auf deutsch so schön heißt. Mogeln war also mit Risiko verbunden. Wer wiederholt erwischt wurde, musste mit empfindlichen Strafen rechnen.

Der geneigte Leser wird vielleicht die Stirn runzeln, den Zeigefinger erheben und moralische Kategorien anführen wie "Betrug " , "Täuschung " , "Verboten zuwiderhandeln", "unerlaubtes Verschaffen von Vorteilen", Ungerechtigkeit anderen gegenüber usw.. Aber in unseren Erzählungen soll diesem "verwerflichen Tun" die amüsante, die zum Schmunzeln führende Seite abgewonnen werden. Mancher Leser wird noch an eigene Erlebnisse denken, ist es nicht so? Vielleicht hatte er uns sogar in dieser Beziehung übertrumpft. So sei es denn!

Für Mathe- und Physikarbeiten durften wir unsere Logarithmen-Tafeln mitbringen, (wie wir hören, können heute Schüler ihre elektronisch verfügbaren Formelsammlungen benutzen). Was taten wir damit? In einzelne Seiten und Register klebten wir gut vorbereitete Formelsammlungen und sonstiges zur Unterstützung des Gedächtnisses. Oder wir beklebten die Rückseiten der Rechenschieber – die gibt es heute nicht mehr - mit kleingeschriebenen Informationen. Manche schrieben sich Formeln oder Vokabeln auf Mini - Zettel in den Handflächen oder auf die Haut der Arme, vom Hemd verdeckt.

Lateinübersetzungen waren nicht einfach, für manchen auch unüberwindlich scheinende Hürde auf dem Hindernislauf zum Abitur. Besonders in der 10. Klasse wurde zum Abschluss der Mittelstufe von den Lehrern noch einmal kräftig "gesiebt".

Ein gutes Mittel, das aber einige logistische Anforderungen stellte, war, in den Tagen vor der nächsten Lateinarbeit darauf zu achten, welche seltenen Vokabeln unser Lehrer in der Übersetzung besonders hervorhob. Hatte man eine Anhäufung bestimmter Vokabeln ausfindig gemacht, fuhr eine kleine " Delegation" nach Bremen zu einer einschlägigen Bücherei. Dort versuchte sie aufgrund dieser speziellen Vokabeln die Textstelle ausfindig zu machen, aus der sie stammten. So gelang es mit etwas Glück, vorbereitet in die Lateinarbeit zu gehen. Das war ein Brauch, den schon viele Klassen vor uns gepflegt hatten.

Etwas Belehrendes

Aus pädagogischer Sicht kann man, wenn man will, auch nützliche Aspekte erkennen. Wer sich einen "Merkzettel " erarbeitet, beweist Organisationstalent, dann Sorgfalt bei der Textauswahl und Fähigkeit zur effektiven Gestaltung, zur Strukturierung eines Problems, denn er muss die richtige Auswahl treffen, eine klare Gliederung wählen und auf Übersichtlichkeit achten. Dazu muss er sich eingehend mit dem Stoff beschäftigen, und es hat sich in der Tat erwiesen, dass er nach der intensiven Beschäftigung mit dem Thema eigentlich diese Absicherung gar nicht mehr gebraucht hätte. Zum Mogeln waren auch Belastbarkeit, Stresswiderstand und Mut erforderlich. Das sind doch wichtige Eigenschaften für das spätere Berufsleben, oder nicht?

Jedenfalls war ein derartiges Mogeln in Schülerkreisen ein Kavaliersdelikt, und mancher verständnisvolle oder mindestens bequeme Lehrer ließ auch eine wohltuende Nachsicht walten.

Trick und Täuschung

Was gab das Repertoire der Lehrer zur Abwehr der listigen Schülertricks her? Die fundamentale und einfachste Möglichkeit war, mit furchtbaren Strafen zu drohen, eine andere, das Mogeln als verwerflichen Charakterzug zu brandmarken, weiterhin während der Prüfungsarbeiten wie ein Luchs durch die Reihen der Delinquenten, - ich meine: der schreibenden Schüler - zu schleichen und die Tische im Auge zu haben.

Ganz sicher glaubten sie zu gehen, wenn sie die Arbeiten in Räumen mit weit auseinander stehenden Bänken schreiben ließen. Eine andere Möglichkeit war, mehrere Themen zu wählen und sie den Schülern so zuzuordnen, dass nebeneinander Sitzende unterschiedliche Aufgaben erhielten.

Dann gab es die Trickreichen, die sich scheinbar gleichgültig vorne an den Lehrertisch setzten und Zeitung lasen oder in Akten blätterten, dabei aber über die Papiere schauten, oder "Vati" Christoph, der während der Arbeit scheinbar durch das Fenster in's Grüne blickte, aber durch die spiegelnde Scheibe sehen wollte, was hinter ihm geschah. "Vati" Christoph trug eine starke Brille, hielt sich aber für besonders schlau und behauptete, dass Mogeln bei ihm sehr schwierig sei. Er demonstrierten uns einmal, ein welch feines Gehöre er habe. Er stellte sich mit dem Rücken zur Klasse an die Tafeln und veranlasste, dass sich zwei Schüler etwas zuflüsterten. Dann drehte er sich um und war stolz, wenn er nachweisen konnte, welche Schüler das waren. Das sollte wohl eine Warnung an uns sein. Na, ja... ....

Es ist also ersichtlich, dass ein stiller Kampf stattfand, wer seine Mittel erfolgreicher einsetzen konnte, Schüler oder Lehrer.

Die Maßnahmen der Schüler mussten der jeweiligen Situation angepasst sein. Was gab es da? Mit dem Nachbarn sich flüsternd zu verständigen, war eine primitive und recht unsichere Methode. Weiterhin konnte man die Aufmerksamkeit des Lehrers ablenken, kleine Infos im Füller verstecken, den man zum Beispiel einem weiter weg sitzenden Kameraden "auslieh ", einen Zettel zusammen geknäuelt über den Tisch oder die Bank schnipsten oder sogar mit Gummibändchen zum Adressaten schießen. Das konnte aber - wörtlich und im übertragenen Sinne - in’s Auge gehen und fatale Folgen haben, wenn Schussrichtung und Entfernung nicht klar beherrschbar waren.

Jetzt sollen einige markante Erlebnisse beschrieben werden.

Die Latein-Mafia

Schwere Stunden gab es für viele Klassenkameraden in der 10. Klasse vor dem Übergang in die Oberstufe. Da sollte noch einmal "gesiebt " werden. Mehrere " Wackelkandidaten" waren in Latein stark gefährdet. Im Chemiesaal sollte eine Lateinarbeit geschrieben werden. Während der Arbeit schien alles sehr ruhig zu sein, aber es wurden Texte aus „Klatschen“ und Informationen insgeheim ausgetauscht und weitergegeben.

Aber das Verhängnis nahm schon seinen Lauf. Einige Tage später erfuhren wir, dass sich mehrere Arbeiten wörtlich glichen und dass eine Untersuchung bevorstünde, um die vermutete Mogel - Mafia auszuheben. Wir konnten vorher gerade noch vereinbaren, dass wir den Lehrern keine andere Auskunft geben wollten als darauf zu beharren, man habe die Arbeit selbst geschrieben.

Die hochnotpeinliche Untersuchung begann. Es konnte nicht gut gehen; die Ähnlichkeiten von Arbeiten waren zu stark, die Indizien erdrückend. Die Mogler wurden erkannt. Sie wurden ins Klassenbuch eingetragen, die Eltern erhielten "blaue Briefe". Zur Strafe musste die Arbeit von allen unter strikter Aufsicht wiederholt werden. Die Auswirkungen zeigten sich zum Ende des Schuljahres. Einige gingen nach der 10. ab, einige blieben sitzen, andere "flüchteten" sich in eine "leichtere" Schule, zum Beispiel nach Scheeßel oder Bremen. Einer dieser unglücklichen Lateiner studierte dann später Medizin und übernahm als Dr. med. in Verden eine Arztpraxis.

Der Mogel-Musikant

Das Fach Musik endete nach der zwölften Klasse, die Schlussnote ging in das Abi - Zeugnis ein Jahr später ein. Zur Festlegung dieser Zensuren ließ unser damaliger Musiklehrer, Studienrat Dinnesen, genannt "Tünnes", ansonsten Lateinlehrer am Domgymnasium, eine Prüfungsarbeit schreiben.

Die musste auch der Unterprimaner Dieter über sich ergehen lassen. Der Musikunterricht an der Schule zählte ganz und gar nicht zu seinen favorisierten Fächern. Also setzte er sich vorher zu Hause hin und schrieb alles, was seiner Meinung nach für diese Arbeit wichtig sei, mit dünnem Bleistifte in kleiner Schrift so auf mehrere DIN-A 5 Blätter rotes Löschpapier, dass ihnen von weitem nichts anzusehen war. Er verwendete darauf viel Mühe und Sorgfalt.

Dann schrieben wir die Prüfungsarbeit im großen Musiksaal, weit auseinandergesetzt. Die Arbeit war so gut wie beendet, Dieter verglich noch einmal vorsichtig mit seinem mitgebrachten Merkzettel. Aber was war das? Auf einmal rief "Tünnes" : "Was haben Sie denn da?" Schon war er mit rotem Kopf da. Dieter sagte: "Ich bin sowieso fertig" und gab seine Arbeit ab. Tünnes betrachtete sich die roten Löschblätter mit den gewissenhaften Eintragungen und nahm sie mit. Seine Äußerungen und sein Gesicht verhießen nichts Gutes. Jeder kann sich vorstellen, dass Dieter in der Folgezeit recht bedrückt war in Erwartung etwaiger schwerwiegender Strafmaßnahmen.

Aber es geschah vorläufig nichts. Nach zwei Wochen verlas Tünnes die Zensuren. Als die Reihe an den Missetäter kam, duckte der sich, nicht mehr ein 1,90 m groß, sondern plötzlich einige Zentimeter kleiner geworden, besorgt tief in die Bank. Dann schaute ihn Tünnes an und vermerkte: "Also, was Sie da gemacht habe mit Ihren Spickzettel, das war nicht in Ordnung. Aber der Sorgfalt, mit der Sie den Zettel zusammengestellt haben, konnte ich entnehmen, dass Sie sich sehr bemüht haben und interessiert an Musik sind. Note: befriedigend!“ Erleichtert fand Dieter wieder zu seiner Größe von 1,90 m zurück. Da hatte doch tatsächlich der gute Tünnes sich und ihm eine goldene Brücke gebaut. Ihm sei Dank gesagt.

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© Ulrich Kohlstädt 2019